Die Baubranche ist der größte Verbraucher von Ressourcen und Energie in Deutschland. Noch immer werden für den Neubau zu viele wertvolle und schwindende Ressourcen verbraucht und beim Abriss von Gebäuden kaum „echte“ Materialkreisläufe nach dem Modell des „Closed-Loop-Recyclings“ genutzt. Das ift Rosenheim und das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC haben untersucht, wie es beim Recycling von Flachglas ausschaut. Das Ergebnis: Die Recyclingquote ist bereits sehr hoch, die recycelten Materialströme fließen jedoch nicht erstrebenswertem Umfang zurück in die Flachglasindustrie. Dieser Artikel analysiert die Gründe und stellt Überlegungen an, wie aus hochqualitativem Glas in der Fassade am Ende des Lebenszyklus erneut hochwertiges Architekturglas werden könnte.
Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland klimaneutral werden. Hierfür ist die ökologische Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft zwingend notwendig. Ein aktuelles Beispiel ist die notwendige Entkopplung der Energiewirtschaft von internationalen Abhängigkeiten und der massive Ausbau Erneuerbarer Energien. Eine noch anspruchsvollere Transformation steht der Bauwirtschaft bevor: Wichtiges Ziel jedes Bauproduktdesigns wird künftig seine Kreislauffähigkeit, denn nur aus dieser kann ein effektiver Ressourcenschutz erwachsen. Das ift Rosenheim und das Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC haben im Auftrag des Bundesverband Flachglas e.V. ermittelt, was Stand der Technik beim Flachglas-Recycling ist und wie die derzeitigen und potenziellen Verwendungsmöglichkeiten für das Rezyklat ausschauen.
Pro Jahr werden in Deutschland rund 1,67 Millionen Tonnen Flachglas für den Einsatz in Gebäudeanwendungen produziert.
Im gleichen Zeitraum fallen in Deutschland rund 521.000 Tonnen Scherben an. [[1]] Davon stammen 350.000 Tonnen vom „End of Life“, aus Gebäudeabrissen, die restlichen 171.000 Tonnen gelangen bereits aus der Weiterverarbeitung (Pre-Consumer) zum Recycler. Doch was geschieht mit den Scherben, wie verlaufen die Wertstoffströme? Nur 101.000 Tonnen (19 Prozent) gelangen einem modernen Kreislaufmodell folgend vom Recycler wieder zurück in die Float-Wannen. Ein Grund hierfür ist, dass die Qualitätsansprüche für die Produktion von Architekturglas besonders hoch sind. Schon geringste Verunreinigungen der Scherben würde einen Einsatz in modernen Floatglasproduktionen unmöglich machen, denn die Anlagen reagieren extrem sensibel auf geringste Materialveränderungen und müssten im Ernstfall neu kalibriert werden, was monatelange Produktionsausfälle verursachen könnte. Der zweite und wahrscheinlich ebenso wichtige Grund sind die seit Jahrzehnten auf niedrigem Niveau befindlichen Floatglaspreise – die Behälterglasindustrie kann schlicht und ergreifend höhere Preise für Scherben zahlen und ist bei der Qualität der Scherben gleichzeitig weniger anspruchsvoll.
Darum gelangt der wesentlich größere Teil, nämlich 235.000 Tonnen (45 Prozent) in die Produktion von Behälterglas, was ein Downcycling darstellt. Weitere 165.000 Tonnen (32 Prozent) gelangen, ebenfalls ein Downcycling, in die Produktion von Glaswolle und weiterer mineralischer Baustoffe. Und immer noch landen 20.000 Tonnen (4 Prozent) der Scherben auf der Deponie, wenn diese keinem anderen Zweck zugeführt werden können. Das größte Hindernis für eine Erhöhung des Scherbenanteils im Gemenge der Flachglasindustrie ist jedoch, dass mit 521.000 Tonnen jährlich nicht genug Scherben für alle Industriezweige anfallen. Anders als Hohlglas, wie es in der Behälterglasindustrie produziert wird, ist Flachglas kein schnell drehendes Wirtschaftsgut – es verbleibt für Jahrzehnte in Fenstern und Fassaden. 521.000 Tonnen Scherben pro Jahr klingen viel, sind aber, verglichen mit anderen Materialien aus Bau-Anwendungen, vergleichsweise wenig: Im Zeitraum
eines Jahres landen in Deutschland 214,6 Millionen Tonnen mineralische „Bau-Abfälle“ beim Recycler. Es herrscht darum ein Wettbewerb um Scherben, den die Flachglasindustrie aufgrund der seit Jahrzehnten vergleichsweise geringen Basisglas-Preise nicht gewinnen kann. Möglichkeiten, dieses strukturelle Ungleichgewicht zu beheben und hochwertiges Architekturglas erneut als Architekturglas einzusetzen, gäbe es einige. Allen voran realistische Preise, denn der Baustoff Glas wird seit Jahrzehnten „unter Wert“ verkauft.
Pools, „Re-Use“, Standardisierung und Digitalisierung
Es könnte aufgrund der Knappheit von Scherben darüber nachgedacht werden, das Glas aus Altgebäuden stärker und konsequenter nach Sorten zu „poolen“, sodass beispielsweise hochtransmissive Low-E oder Sonnenschutzverglasungen mit Softcoatings nicht als Wasserflasche enden die weitaus geringere Ansprüche an die Qualität des Rohglases stellt, sondern erneut in der Architektur zum Einsatz kommen – der Kreislauf also auf gleichbleibender Qualitätsebene geschlossen wird. Ein weiterer Impuls, der zu mehr Nachhaltigkeit führen würde: Ein „Re-Use“, der Wiedergebrauch von Architekturglas, wäre dem Recycling sogar überlegen. Alte Fenster und Fassaden könnten künftig leichter zerlegbar sein, um Komponenten sauber zu trennen und echte Materialkreisläufe bei den Herstellern bzw. Verursachern zu schaffen. Die entnommenen Glasscheiben zu reinigen und erneut mit Funktionsbeschichtungen zu versehen würde weniger CO2 freisetzen als immer nur neu zu produzieren – und es ließen sich reichlich Rohstoffe sparen. Realistisch würde dies allerdings nur, wenn eine so aufbereitete Scheibe zumindest die gleiche Wertschöpfung erlaubte wie die Produktion einer neuen Scheibe und wenn entsprechende Preise auch von den Verbrauchern akzeptiert würden.
Vereinfachte Re-Use-Prozesse ließen sich künftig auch über mehr Standardisierung erzielen: Angenommen, nicht jedes Gebäude würde, wie heute noch üblich, individuell geplant, sondern seriell, modular und unter Berücksichtigung bestimmter Scheiben-Standardabmessungen, dann ließen sich viele Komponenten sehr viel leichter wiedereinsetzen. Allerdings gilt die Erkenntnis: Ohne Digitalisierung keine
Standardisierung! Der Schlüssel zu mehr Standardisierung sind funktionierende und gut gefüllte digitale Materialdatenbanken wie Madaster oder ecolearn Infobase und eine funktionierende 2D- und 3D-Planung über digitale Planungstools wie BIM (Building Information Modelling). In der Automobilindustrie funktionieren diese Prozesse bereits seit Jahrzehnen – warum nicht auch in der Bauindustrie?
Für die Zukunft essentiell: Gebäude sind Materialbanken
Ein typisches Mehrfamilienhaus mit Baujahr 1962 (das Gros der städtischen Mehrfamilienhäuser in Deutschland wurde zwischen 1958 und 1968 erstellt) bietet am Ende seines Produktlebens noch reichlich recycelbare Baumaterialien, wie EPEA (Environmental Protection Encouragement Agency) in einer Grafik darstellt. Kommunen müssen den Häuserbestand als umfangreiches Materiallager begreifen, das wertvolle Materialien birgt, die wiederverwertet werden müssen: Beton, Mauersteine, Stahl, Glas, Holz, Gips, Kunststoffe und vieles mehr. Ein klimaneutrales Bauwesen ist ohne Kreislaufwirtschaft nicht umsetzbar. EPEA hat errechnet, dass in rund 2.400 Gebäuden dieser Charakteristik rund 2,2 Millionen Tonnen Rohstoffe gespeichert sind, die es nur zu heben gilt. Geplantes „Urban Mining“ ist der Schlüssel zur Klimaneutralität und einem maßvolleren Umgang mit Ressourcen. Denn nur etwa die Hälfte der gesamten CO2-Emissionen bei Neubauten fallen im Betrieb, zum Beispiel durch die Warmwasserversorgung und das Heizen an – die andere Hälfte, die sogenannte „graue Energie“, fällt bei der Herstellung und dem Transport von Baumaterialien an sowie beim Abriss und der „Entsorgung“. Der Einsatz grauer Energie und die Lebenszykluskosten sollten darum künftig in einen digitalen Material- und Gebäudepass einfließen – die erforderlichen Weichenstellungen sollte die Politik so schnell wie möglich vornehmen, damit Architekten, Bau- und Fassadenplaner schon in der frühen Planung jedes Gebäudes seinen Abbruch „mitdenken“. Dies wird künftig auch für Investitionsentscheidungen essentiell: Investoren und Kreditgeber sollten transparent einschätzen können, wie sich der Wert und das Wiederverwendungspotenzial eines Gebäudes über Jahrzehnte entwickeln wird. Alle registrierten Rohstoffe stellen dann einen bezifferbaren Vermögenswert dar.
Bildunterschriften
[22-03_Quantitatives Stoffstrommodell]
Die Materialströme von der Glasproduktion bis zum Recycling machen deutlich: Das Recycling von Flachglas funktioniert bereits sehr gut, allerdings finden qualitative Unterschiede zu wenig Berücksichtigung. Darum wird aus hochwertigen Architekturglas heute noch selten erneut hochwertiges Architekturglas.
Grafik: ift Rosenheim für Bundesverband Flachglas, Forschungsbericht Flachglasrecycling
[22-03_Verborgene Schätze]
Die materielle Zusammensetzung eines typischen Mehrfamilienhauses aus den 60-Jahren macht deutlich, wie viele Rohstoffe hier gehoben und erneut eingesetzt oder wiederverwertet werden könnten. Für eine klimaneutrale Bauwirtschaft müssen Bestandsgebäude als Materialbanken begriffen werden.
Grafik: EPEA / Matthias Heinrich
[1] Diese und weitere Zahlen vgl. „Recycling von Flachglas im Bauwesen – Analyse des Ist-Zustandes und Ableitung von Handlungsempfehlungen“, ift Rosenheim 11/2019 und Arbeitskreis „Klima und Nachhaltigkeit“, Bundesverband Flachglas, 01. März 2022