Digitale Technologien gehörten zu den Hot Topics der glasstec 2024. Wenig verwunderlich, denn mittlerweile kommt auch in der Glasbranche kaum jemand an diesem Thema vorbei.
Ein Blick in die Praxis liefert spannende Einblicke: In der Glasproduktion kommen bereits heute hochentwickelte KI-gestützte Systeme zum Einsatz, die klassische Prüfmethoden ergänzen oder sogar ersetzen. Ein Unternehmen, das hier besonders weit vorne ist, ist die Cerrion AG.
Wir haben mit Nikolay Kobyshev, Gründer und Chief Technology Officer (CTO) bei der Cerrion AG und Speaker bei den glass trends live 2024, über die spezifischen Herausforderungen bei der KI-gestützten Fehlererkennung gesprochen. Wie setzt Cerrion die neue Technologie ein, wie unterscheiden sich KI-gestützte Systeme von herkömmlichen Prüfmethoden und welche zukünftigen Entwicklungen erwartet er für den Einsatz von KI in der Glasindustrie.
Welche spezifischen Herausforderungen gibt es aktuell bei der KI-gestützten Fehlererkennung in der Glasproduktion?
Die Überwachung des Formungsprozesses ist äußerst komplex. Aufgrund der heißen und verschmutzten Umgebung ist die Installation traditioneller Sensoren oder standardmäßiger Qualitätssicherungskameras unpraktisch oder sogar unmöglich. Bei Cerrion verwenden wir handelsübliche CCTV-Kameras, die bis zu 5 Sektionen von der IS-Maschine aus mehreren Metern Entfernung überwachen. Für Karussellmaschinen reichen ein bis zwei Kameras aus, um die gesamte Maschine abzudecken. Jede Kamera beobachtet den Prozess aus einem anderen Winkel, wobei visuelle Ablenkungen wie Wartungsarbeiten oder das Schwabbeln der Sektionen häufig auftreten. Daher benötigt das KI-System außergewöhnliche Robustheit und Generalisierungsfähigkeit, um zu verstehen, was im Formungsbereich tatsächlich passiert.
Da die Mehrheit der Produktionszyklen normal verläuft, muss die KI eine extrem hohe Genauigkeit aufrechterhalten. Schon ab 99 Prozent Genauigkeit würde jede hundertste Erkennung ein Fehlalarm sein, der den Betrieb stören könnte. Deshalb erfordern praktische Systeme eine nahezu perfekte Zuverlässigkeit (99,9999… Prozent), um echten industriellen Mehrwert zu bieten. Das ist besonders anspruchsvoll, da das System nicht nur Fehlalarme vermeiden, sondern auch extrem sensibel sein muss, um jede einzelne Prozessabweichung zu erfassen.
Glas ist außerdem schwierig zu überwachen, da es sehr dynamisch ist: vom Tropfen bis hin zur fertigen Flasche oder einem Weinglas ändern sich Form und Farbe des Materials innerhalb von Sekunden. Die raue Produktionsumgebung erschwert es außerdem, die Kameras stets sauber zu halten. Ein KI-System muss daher robust genug sein, um auch mit verschmutzten Kameralinsen zuverlässig zu funktionieren.
Welche Erfahrungen haben Unternehmen gemacht, die bereits mit Cerrion zusammenarbeiten? Was macht Ihre Technologien so besonders?
Cerrion liefert KI-Agenten, die automatisch unterschiedliche Produktionsunregelmäßigkeiten erkennen, seien es Produktionsprobleme, Qualitätsprobleme oder unsichere Situationen. Sobald ein Produktionsproblem identifiziert wurde, führen die Agenten automatisch Aktionen durch: die Aktivierung einer Ausblasvorrichtung oder das Anhalten einer Maschine oder Sektion oder sie benachrichtigen den Operator über Lautsprecher, Warn-Displays, WhatsApp oder MS Teams. Sie verfügen über eine automatische Eskalation: Wenn beispielsweise ein Sektionscrash trotz Alarm unbemerkt bleibt, führt das System automatisch einen sicheren Stopp durch, um eine Eskalation zu verhindern. Natürlich kann der Nutzer das Verhalten der KI-Agenten und die Eskalationswege über das Cerrion-Dashboard vollständig kontrollieren.
Die Ergebnisse sind beeindruckend: Unsere Kunden verzeichnen eine Reduktion von Sicherheits- und Brandrisiken um 90 Prozent sowie eine Senkung der Verluste im heißen und kalten Bereich um mehr als 34 Prozent.
Zusätzlich erstellt Cerrion bei jeder erkannten Produktionsanomalie eine Videoaufnahme des Ereignisses einschließlich eines 30-sekündigen Kontextes vor dem Vorfall. So können die Werkteams nicht nur feststellen, wann Probleme auftreten, sondern die Ursachen visuell analysieren und besser verstehen. In einer typischen Fabrik überprüfen die Mitarbeiter täglich bis zu 100 solcher Videos, wodurch ihre analytischen Fähigkeiten erheblich gesteigert werden.
Wie unterscheiden sich KI-gestützte Systeme von herkömmlichen Prüfmethoden?
Traditionelle Prüfsysteme messen spezifische Produkteigenschaften, wie etwa die Höhe einer Flasche, und vergleichen diese mit vordefinierten Grenzwerten für jeden Produkttyp. Im Gegensatz dazu lernen KI-gesteuerte Systeme eigenständig, was akzeptable Produktionsqualität ausmacht, und benötigen dabei minimale Benutzereingaben. KI-Systeme passen sich automatisch und sofort an neue Produkte an, sodass keine manuelle Neukalibrierung bei Produktwechseln erforderlich ist. Da sie nicht auf fixe Messungen angewiesen sind, können KI-Systeme eine größere Vielfalt von Defekten und Produktionsanomalien erkennen. Beispielsweise ist es mit herkömmlichen Prüfsystemen unmöglich, Sektionenabstürze mit einfachen CCTV-Kameras zu erkennen. Mit KI ist dies jedoch problemlos möglich. Cerrion erkennt erfolgreich Sektionenabstürze an über 50 Produktionslinien weltweit!
Da KI-Systeme ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Realität haben, reagieren sie weniger empfindlich auf die Eingangsbedingungen. Zum Beispiel können KI-basierte Systeme günstige und allgemein verfügbare Hardware wie einfache CCTV-Kameras nutzen, wodurch teure und platzraubende Geräte zur Sicherstellung optimaler Prüfbedingungen unnötig werden. Man muss lediglich eine CCTV-Kamera im relevanten Bereich installieren und das System ist einsatzbereit. Es ist nicht erforderlich, für saubere Hintergründe, optimale Lichtverhältnisse oder perfekte Winkel zu sorgen.
Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie für KI in der Glasindustrie?
In naher Zukunft wird KI immer mehr Produktionsbereiche abdecken. Da sie die Produktionsprozesse zunehmend ganzheitlicher versteht, wird dies zur Entstehung von KI-Agenten führen. Solche Agenten, wie sie Cerrion bereits heute anbietet, funktionieren ähnlich wie Menschen: Sie benötigen einfache, aber umfassende Eingaben, etwa Videos von CCTV-Kameras, und können eigenständig Schlussfolgerungen über das Geschehen ziehen. Sie können die gesamte Produktionsfläche umfassend überwachen und bei auftretenden Anomalien entweder automatisch handeln oder Menschen zur Unterstützung rufen. Dies ermöglicht ein effizienteres Personalmanagement, bei dem weniger Mitarbeiter schnell auf von der KI erkannte Probleme in verschiedenen Produktionsbereichen reagieren können.
Schon heute versendet Cerrion Echtzeitbenachrichtigungen mit Bildern direkt an die mobilen Geräte der Bediener via WhatsApp oder MS Teams und übermittelt automatische Signale an Maschinen – zum Beispiel für einen normalen Stopp bei einer Störung. Dadurch können weniger Mitarbeiter größere Bereiche effektiver verwalten.
Die wachsende Verfügbarkeit detaillierter Produktionsdaten durch KI-gestützte Überwachung wird ein ganzheitliches Verständnis der Herstellungsprozesse ermöglichen, sodass Unternehmen Probleme an der Wurzel identifizieren und lösen können.
Zudem werden KI-Systeme zunehmend Produktionsprozesse steuern, bei denen jedes Produkt einzigartig ist, wie etwa beim Ziehen der Stiele von Weingläsern. Diese derzeit durch manuelle Inspektion kontrollierten Prozesse werden künftig von der Fähigkeit der KI profitieren, gelernte Muster zu generalisieren und effektive automatisierte Überwachung zu ermöglichen.