Ein zweiter Forschungsschwerpunkt am GCC ist die Kantenfestigkeit von Glas. Warum ist diese so relevant?
Matthias Seel: Beim Schneiden einer Glasscheibe entstehen an den Kanten lauter kleine Risse. Diese können sich unter ungünstigen Randbedingungen – etwa bei hoher Sonneneinstrahlung – rasch vergrößern und die Scheibe zerstören. Bisher hat man das vermieden, indem Gläser thermisch vorgespannt wurden – ein energieintensiver Prozess. Wir forschen nun an Methoden, die Kanten so zu bearbeiten, dass auf das thermische Vorspannen für solche Anwendungen verzichtet werden kann. Die Industrie hat daran ein enormes Interesse. Auch im Hinblick auf die Dünn- und Dünnstgläser, die nun auf den Markt kommen, wird das Thema immer relevanter. Allerdings gibt es dabei keine Patentrezepte. Man kann also nicht sagen, dass eine Glaskante durch Schleifen und Polieren per se fester wird. Es kommt immer darauf an, wie die Bearbeitung im Detail aussieht, bzw. wie die dabei eingebrachten Risssysteme aussehen.
Welchen Praxisnutzen können solche Erkenntnisse haben?
Miriam Schuster: Unser Ziel ist es, der Industrie und den Anwendern entsprechende Merkblätter an die Hand zu geben und unsere Forschungsergebnisse auch in die Normung einfließen zu lassen. Des Weiteren forschen wir daran, zerstörende Prüfungen durch neue, nicht zerstörende Prüfungen zu ersetzen. Dies trifft unter anderem auf die Beurteilung der Kantenfestigkeit, der Nickelsulfidproblematik und der Festigkeit zu. Im Idealfall könnten die Glashersteller die Festigkeit sogar inline, also in den Fertigungsprozess integriert, für jede einzelne Scheibe überprüfen.
Gemeinsam mit mehreren Partnern forschen Sie derzeit auch an rahmenlosen, selbsttragenden Glaskonstruktionen. Worum geht es dabei?
Miriam Schuster: Bisher wurden Glasschalen mithilfe einer tragenden Struktur – meistens aus Stahl – konstruiert. Wir wollen diese Unterkonstruktion nun durch ein Fitting ersetzen, das unsichtbar in den Isolierglasaufbau integriert wird. Das Fitting wird am Rand eines Verbundsicherheitsglases einlaminiert und das Ganze dann durch eine weitere Scheibe zum Isolierglas ergänzt.
Wo liegen dabei die wesentlichen Herausforderungen?
Miriam Schuster: Die Fittings müssen in der Lage sein, Lasten in die Verbundsicherheitsgläser einzuleiten. Dabei darf natürlich kein Glasbruch entstehen, und die Haftung zwischen Fitting, Folie und Glas muss gewährleistet sein. Das wiederum bringt Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen mit sich. Zum Beispiel findet beim Laminieren von Verbundsicherheitsgläsern immer eine gewisse Entlüftung statt. Das Metallfitting kann diesen Prozess behindern. Für die Konstruktion und Statik ist neben den klassischen Lasten wie Wind auch die Berücksichtigung von Temperatureinflüssen wichtig. Zum einen ändert sich die Steifigkeit der Folie, was die Spannungen im Glas beeinflusst. Zum anderen entstehen durch Änderungen des Luftdrucks oder der Umgebungstemperatur sogenannte Klimalasten im Isolierglas. Dadurch bauchen diese leicht aus.
Zur glasstec 2024 zeigen Sie eine Treppenkonstruktion mit Stufen aus gekantetem Glas. Wie funktioniert diese Konstruktion?
Matthias Seel: Wenn man Flachglas biegt oder abkantet, kann es deutlich höhere Lasten aufnehmen. Gemeinsam mit einem Start-up aus Freiburg wurde ein Verfahren entwickelt, das solche Umformungen ermöglicht – und zwar als Unikate, ohne die Formen, die man bisher für warmgebogenes Glas brauchte. Für die Treppenstufen stellen wir jeweils zwei ineinanderpassende Glaselemente her, die dann mit einem Flüssigharz laminiert werden. In Summe ergibt das eine sehr transparente, schlanke und steife Konstruktion. Wenn man es richtig anstellt, lassen sich mit solchen Verfahren rund 80% Material einsparen – ein deutlicher Mehrwert für Architektur und Nachhaltigkeit.